Dienstag, 10. Februar 2015

Stell dich nicht so an...

Aus aktuellem Anlass sortiere ich meine Bewerbungsunterlagen. Mir fallen die Zeugnisse aus knapp fünfzehn Jahren Schuldienst in die Hände. Erinnerungen werden wach.
 
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"Es ist ihr gelungen eine gute Beziehung zu ihrer relativ schwierigen und grossen Klasse aufzubauen"
"Bei deiner zukünftigen Klasse weiss man schon, in welchem Zimmer sie sich befindet, bevor man überhaupt das Haus betritt." warnt mich der amtierende Schulleiter in einer kleinen Berner Berggemeinde vor. "Da nämlich wo einer an der Scheibe klebt, und zwanzig andere ihn randrücken..." Es ist die letzte Woche in den Sommerferien, und ich bekomme die Schulhausführung "Director's Cut". Es wird die allererste Stelle sein, die ich nach bestandenem Lehrpatent antrete. Der etwas unbeholfene Humor meines Vorgesetzten hilft mir nicht über mein Lampenfieber hinweg. 27 Kinder einer altersgemischten Klasse werden mir sehr schnell zeigen, dass ich hier mit meinen selbstgebastelten Werkstätten und Lehrplan-Collagen nicht weit komme. Ich blättere in meinem 150seitigem Herbarium, wühle mich durch die zahlreichen Fotos von Studienwochen in Strassburg und Basel, sortiere Gruppenarbeitsreflexionen und finde keine Hilfe dazu, wie ich mit den Selbstmorddrohungen einer Drittklässlerin oder dem gewaltätigen Vater umgehen soll, der keine weibliche Autoritäten anerkennt. Bereits nach wenigen Monaten sind mir die Berge zu nah. Der Dorfarzt diagnostiziert ein beginnendes Magengeschwür und empfiehlt: Antidepressiva oder Umzug ins Tal. Der Entscheid ist schnell gefällt.

"Umsichtig und hilfsbereit bot sie auch Hand an, die Integration einer schwerstbehinderten Schülerin solange wie möglich an der Volksschule zu stützen und realisieren."
Das Mädchen hat Diabetes vom Typ 1. Eine grosse Sache ist das jetzt wirklich nicht. Aber der damalige Schulleiter besteht auf der Formulierung. Bei jedem Ausflug oder Geburtstagsznüni kläre ich rasch das Vorgehen mit der Mutter ab und überprüfe regelmässig, ob der Insulin-Pen im Lehrerzimmer für den Notfall bereit wäre. Laura piekst sich vor jeder grossen Pause und misst rasch den Zucker, bevor sie selbständig ihre Pumpe reguliert. Die anderen Kinder wissen darob Bescheid, das Mädchen hat aber keine Sonderstellung in der Klasse. Ihre Krankheit hat genauso Platz wie die jährzornigen und aggressiven Ausbrüche ihres Kameraden. In meinem zweiten Jahr im Schuldienst lerne ich mehr über strukturierte Abläufe, Planung und Beurteilung als in meiner gesamten Seminarzeit. Schade, dass meine Stellvertretung definitiv ausläuft. Hier wäre ich gerne geblieben.

"Frau S. hat sich schnell mit ihrer jugendlichen Frische ins Lehrkollegium integriert."

Ein Aufatmen geht mit meiner Wahl durchs ganze Haus. Das ist aber weniger mein Verdienst: Die beurlaubte Lehrkraft Despotin führte eine strenge und kühle Hand im Schulzimmer, dass mich schon nur bei der Hospitation schaudert. Die Kinder gleichen dressierten Äffchen, jedes Pult ist innen akribisch-symmetrisch-identisch aufgeräumt und im Zimmer herrschen - trotz der Sommerhitze draussen - eisige Temperaturen. Ich bekomme während meines Besuchs mit, wie sie die Arbeit einer Drittklässlerin in kleine Fetzen zerreisst, damit diese beim nächsten Einreichen nicht mehr vergisst, den Namen darunter zu setzen. Neue Besen kehren immer gut, aber diese Klasse werde ich drei Jahre lang mit Freude und Begeisterung unterrichten und nur ungern in die Oberstufe ziehen lassen. Einige herzliche Kontakte sind bis heute geblieben.

"Sowohl von den Kindern als auch von den Eltern erhält sie immer wieder positive Rückmeldungen und die Bestätigung, dass die Kinder ihren Unterricht gerne besuchen."
Der berührende Brief eines dankenden Vaters liegt seit über zehn Jahren auf meinem Schreibtisch. Er ahnte wohl kaum beim Schreiben, wie oft er mir damit in schwierigen Zeiten helfen würde, am Ball zu bleiben.

"Als Teilpensenlehrerin pflegt Frau S. einen engen Kontakt zu den Klassenlehrpersonen und gibt ihnen klare Rückmeldungen."
"Du bist so ein Arschloch! Beginnst hinter meinem Rücken eine Affäre mit der Parallelklassenlehrerin - obwohl ihr BEIDE verheiratet seid und Familien habt - und tust an den gemeinsamen Besprechungen so, als wäre nichts! Dass man Wodka im Atem nicht riecht, ist ein Märchen, und dass niemand merkt, dass du besoffen unterrichtest, glaubst ebenfalls nur du. Ich habe für dich den Elternabend und Gespräche geschmissen und dich auch gedeckt, als du in der Landschulwoche schon am ersten Mittag deinen Rausch ausschlafen musstest. Aber DICH hat die Schulleitung weiterhin geschützt, auch nachdem ich Meldung erstattet hatte, und ICH musste nach einem Jahr den Hut nehmen. Ein Hoch auf unser Schulsystem."

"Die Schülerinnen und Schüler der KKB, die alle ihre nicht immer nur unbelastete Schulgeschichte mit sich herumtragen, freuten sich von Woche zu Woche auf die drei Werklektionen bei Frau S."
Eine Stellvertretung, die mir in lieber Erinnerung geblieben ist. Ich darf ein Jahr lang eine kleine Werkgruppe in jenem Schulhaus unterrichten, in dem ich praktisch aufgewachsen bin. Mein Vater - selber passionierter Werklehrer - bereitet mit mir zusammen die Werkarbeiten vor, die grosse Pause verbringen wir gemeinsam. 

"Disziplinarische Massnahmen waren nie ein Thema."
Hast du eine Ahnung! Dass du so denkst, nehme ich gerne als Kompliment. Wenn du wüsstest, was für eine Buchhaltung nötig ist, um eine Klasse im Griff zu haben... Aber: What happens in the Schulzimmer, stays in the Schulzimmer.

"Mit ihrer Anstellung hat Frau S. einen langjährigen Lehrer ersetzt. Der Einstieg in ein eingespieltes Team war eine besondere Herausforderung."
Ich trete in gigantische Fusstapfen. Yetimässig. Und nach einem Schuljahr ziehe ich die Notbremse. Die Erwartungen des Teams kann ich nicht erfüllen. Nach zwölf Monaten Mobbing, Erpressung und offener Bedrohung, als ich mich dagegen wehre ("ich mache dich fertig, wenn du nicht zurückziehst"), kündige ich erschöpft. Beim Abschlussabend skandieren alle Klassen gemeinsam meinen Namen und lassen die damalige Schulleiterin und Rädelsführerin nicht mehr zu Wort kommen. Mehr Genugtuung braucht es nicht.

"Sie war verantwortlich für den Werkraum und während des Skilagers für die Küche und Verpflegung."
Fassen wir zusammen: Ich habe eine Mulde voll Abfall entsorgt, aufgeräumt, geputzt, geflickt, sortiert, neu bestellt und bunt gestrichen. Und natürlich habe ich zehnmal lieber gekocht und gebacken für ein Haus voller Leute, als dass ich eine Stemmbogengruppe den Hang runterführte.

"Sie war sogar bereit, dem Wunsch der Kinder nach einer Landschulwoche nachzukommen und hat nach einem halben Jahr eine Stabilität erreicht, welche eine Sonderwoche verlangt."
Nett formuliert. Übersetzt heisst das, ich habe ein halbes Jahr lang auf der Basis von Erpressung gearbeitet.

"Der Unterricht von Frau S. war immer tadellos vor- und nachbereitet."
Und nie, nie, nie habe ich die Klinke runtergedrückt, die Schulzimmertür geöffnet und beim Eintreten überlegt: Sodeli, was machen wir heute? 

"Neben den fachlichen Lernzielen legte Frau S. Wert auf einen wertschätzenden und respektvollen Umgang in der Klasse. Störungen und Probleme wurden ernst genommen und konstruktiv behandelt, so dass ein gutes Klassenklima entstand." 
Wenn man weiss, dass diese Zeilen mein damaliger Schulleiter und Stellenpartner verfasst hat... Wenn man weiss, dass er berüchtigt für seine Wutausbrüche, chauvinistischen Kommentare und Grobheiten war... Wenn man weiss, dass er die Kinder konstant klein machte, beleidigte und so hart anpackte, dass blaue Flecken zurückblieben... Dann war das wahrlich kein Kunststück!

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